Bestimmt hat sich jeder von uns schon mal bei diesem einen Gedanken ertappt „Hätte ich doch nur… . Dann wäre jetzt alles anders“. Aber kann eine einzige Entscheidung wirklich das ganze Leben verändern? Oder fällt es einem viel eher leichter, die Schuld der eigenen Lage von sich zu weisen, wenn man stattdessen eine einzige Entscheidung dafür verantwortlich machen kann? Das ganze Leben besteht aus Entscheidungen. Wir treffen sie jede Sekunde und meistens fällt es uns gar nicht auf. Trage ich heute ein blaues oder ein weißes T-Shirt? Biege ich rechts oder links ab? Natürlich gibt es abgesehen davon auch große Entscheidungen: Was studiere ich? Nehme ich den Job an? Ziehe ich um? Mit all diesen Entscheidungen, großen wie kleinen beschäftigt sich der Roman „The Midnight Library“, von Matt Haig. Jetzt, wo das Abi vor der Tür steht und damit auch die Entscheidung was danach folgt, hat mich die Frage welche Tragweite Entscheidungen haben können sehr beschäftigt, weshalb mich das Buch direkt angesprochen hat. „The Midnight Library“ war zudem mein erster englischsprachiger Roman.

Nach einer Unglücksspirale, in der sie ihren Job verliert und ihre Katze stirbt, nimmt sich Nora Seed das Leben und landet in einer Bibliothek. Als sie auf Mrs. Elm, ihre alte Schulbibliothekarin, trifft hat sie viele ungenutzte Chancen und bereute Entscheidungen im Gepäck. Zum Glück ist die Bibliothek in der sie sich wiederfindet keine normale Bibliothek: Die Mitternachtsbibliothek enthält unendlich viele Bücher mit unendlich vielen Versionen ihres Lebens, die alle nur eine Entscheidung voneinander entfernt liegen. Und was gewesen wäre wenn sich Nora einmal anders entschieden hätte, eine Chance wahrgenommen hätte oder eben nicht, findet sie heraus indem sie alle Leben ausprobieren kann, in der Hoffnung alles was sie bereut rückgängig machen zu können und doch noch glücklich zu werden.
Ich muss ehrlich zugeben das ich anfangs etwas skeptisch war, die Ereignisse die zu Noras Selbstmord führten kamen mir ein wenig vor wie aus einem Selbsthilfebuch entführt. Doch spätestens bei ihrer Ankunft in der Mitternachtsbibliothek legte sich dieser Beigeschmack und wurde von dem philosophischen Aspekt der Frage „Was wäre wenn?“ überschattet. Denn während Nora die verschiedenen Versionen ihres Lebens ausprobierte habe auch ich angefangen darüber nachzudenken was gewesen wäre wenn ich manche Dinge anders gemacht hätte. Und ob es wirklich einen so großen Unterschied gemacht hätte. Und genau wie Nora mit der Zeit versteht das es nicht darum geht wer man gewesen ist und was man in der Vergangenheit getan hat, genau so habe ich verstanden das es viel eher darum geht wer man sich entscheidet zu sein. Jetzt und in Zukunft. Denn alle Chancen in seinem Leben zu nutzen ist nicht zwingend eine Garantie dafür, glücklich zu sein. Viel eher geht es darum zu tun was man wirklich will, sich nicht den Träumen anderer unterzuordnen sondern seinen eigenen Traum zu leben, denn sonst wird man immer das Gefühl haben das etwas fehlt.
Als ich Nora kennenlernte tat sie mir leid. Als ich erfahren habe welche Chancen sie nicht genutzt hat schlug dieses Mitleid bei mir in Wut um, schließlich hatte sie jede Möglichkeit gehabt glücklich zu werden, aber hat sie nicht genutzt. Das es beim Glück nicht zwingend um Erfolg, Berühmtheit oder Geld geht, habe ich wie Nora erst später verstanden. Denn die beste Art zu Leben gibt es nicht. Nur die Art wie man Leben will. Matt Haig greift in seinem Buch alle Seiten des Lebens auf, Licht wie Schatten. So wird durch das Eingehen auf Noras Depressionen Bewusstsein für psychische Krankheit und deren Auswirkungen geschaffen. Auch durch die verschiedenen, teils sehr kreativen Versionen ihres Lebens, wie Nora die Gletscherforscherin wurde darauf aufmerksam gemacht, welche verschiedenen Gestalten das Leben annehmen kann.
Letztendlich kann ich nichts weiter tun als zu sagen: Werft eure Selbsthilfebücher weg und lest stattdessen „The Midnight Library“. Ich habe das Buch trotz der Fremdsprache auf einer ( sehr langen) Zugfahrt durchgelesen und hatte danach ordentlich Stoff zum Nachdenken. Was ich auf jeden Fall bemerkt habe ist das mir der Roman die Schuldgefühle genommen hat, die ich wegen vergangener Fehlentscheidungen hatte und mir geholfen hat, mein Leben so wie es ist zu akzeptieren, weg von dem Gedanken was hätte sein können. Und auch wenn es so düster beginnt, endet es doch mit einem Happy-End, für die Protagonistin aber auch für den Leser selbst.